„Ich halt das nicht mehr aus…!“
Vielleicht haben Sie diesen Satz auch in letzter Zeit immer öfter gehört oder sogar selbst gesagt. Viele von uns können es nicht mehr hören und ertragen, diese Worte wie: Abstand, Verzicht, homeoffice und homeschooling usw. Die eigenen vier Wände wurden im letzten Jahr für viele Menschen zu Orten der Isolation. So sehr das eigene Zuhause früher der Ort der Entspannung und Erholung war, um so mehr veränderte es sich zum Ort der Isolation, ja zum „goldenen Käfig“, in den man sich eingesperrt und vom Leben ausgesperrt fühlt.
Eng ist es uns geworden!
In meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Familienberaterin bin ich aktuell mit einer bisher nicht gekannten Häufigkeit an Gewalt in den vielfältigsten Ausprägungen konfrontiert. Viele Gedanken und Hypothesen gehen mir da täglich durch den Kopf und auch durch mein Herz. Die psychische Not in unserer Gesellschaft ist riesengroß. Sie macht keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, dem Alter und dem Millieu oder dem Bildungsgrad. Kinder sind davon genauso betroffen wie Frauen, Männer und nonbinäre Menschen.
Was passiert da gerade mit uns?
Wo beginnt die Gewalt?
Wie zeigt sie sich und was zeigt sie uns?
Was kann man da tun? Was kann ich tun, um der Gewalt entgegen zu treten?
Nun, Gewalt hat immer mit Verzweiflung, Ohnmacht und Angst zu tun. Menschen, deren Bewältigungsstrategien nicht mehr wirken, fühlen sich ausgeliefert. Das Gefühl der Ohnmacht und Verunsicherung wird stärker und bewirkt Hilflosigkeit – ich bin ausgeliefert! Die Pandemiesituation befeuert gerade diese Aspekte. Wie beruhigend wäre es zu hören, wann alles vorbei ist und es wieder wie gewohnt weitergehen kann. Wenn ich wieder planen könnte und somit wieder das Gefühl erhalte, Kontrolle und Perspektiven in meinem Leben zu haben
Gewalt beginnt unbemerkt, sie schleicht sich ein. Erstmals beginnt es mit heftiger und „geladener“ Sprache, Schreien, Schimpfen… in dem das Wort DU bevorzugt verwendet wird. DU machst mich wahnsinnig – DU bist schuld, dass es mir so geht – DU, DU, DU…
Damit wird ein verhängnisvoller Kreislauf gestartet. Je weniger ich über mich spreche, umso mehr fühlt sich das vis a vis angegriffen und mit Vorwürfen überschüttet ….die Folge ist klar: es geht um Verteidigung und Rechtfertigung und der Kreislauf der Beschuldigung und der Verletzung ist eröffnet…In diesem Kreislauf hören sich die Betroffenen gar nicht mehr, es geht nur mehr um meine Standpunkte, um Kämpfen (wer recht hat, wer am meisten leidet,usw). Damit bringen sich auch Paare in ein großes Dilemma: das worum es jedem wirklich geht, tritt immer mehr in den Hintergrund. Die wirklichen Bedürfnisse kommen nicht zur Sprache, Verletzungen werden wie Waffen eingesetzt, in der naiven Hoffnung, damit vom anderen gehört und doch verstanden zu werden.
Das kann natürlich nicht funktionieren! Das was passiert ist, dass aus der eigenen Verzweiflung und Ohnmacht heraus die Eskalation steigt, die bis zum Hass führt. Wut und Zorn müssen sich Luft machen und das führt oft auch zu körperlicher Gewalt und Brutalität…
Was kann man da dagegen tun?
Wie aus meinen Ausführungen deutlich wird, fängt alles schon sehr früh und unscheinbar an. Ein wesentlicher Punkt ist es, seine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen ernst zu nehmen, nicht drüber hinweg zu gehen. Wenn ich meine Gefühle für mich benennen kann und meiner Wahrnehmung traue, dann kann ich auch frühzeitig achtsam sein und meine Bedürfnisse ansprechen. Ich könnte dann z.B. bemerken, dass ich erschöpft bin und im Moment nicht mit meinem Partner reden kann. Ich könnte ihm das zurückmelden und sein Bedürfnis nach Zuspruch verstehen, ohne dass ich es im Moment erfüllen kann.
Oft ist gut gemeint genau das Gegenteil.
Da möchte ich nicht enttäuschen, und biete etwas an, das ich ehrlicherweise gar nicht erfüllen kann. Aber ich erwarte mir stillschweigend, dass er „mein Opfer“ merkt und mich z.B. mit Zuwendung „belohnen wird“- was aber nicht passiert. Aus Enttäuschung entsteht dann wieder Frust. Die Verantwortung für mich übernehmen, ist ein wesentlicher Punkt in der Gewaltprävention. ICH spreche über mich, ICH teile dir mit, was ich wahrgenommen habe, ICH lass dich wissen, was das bei mir ausgelöst hat und ICH habe eine Idee oder einen Wunsch oder beides wie es besser sein könnte.
ICH bin neugierig, was DU denkst, auch wenn es so gar nicht das ist, was ich denke! Wir dürfen auch komplett anders sein und wir müssen uns auch nicht verstehen – die Dinge dürfen auch nebeneinander stehen bleiben, weil SICH JEDER VON UNS SELBST RESPEKTIEREN KANN, KÖNNEN WIR UNS AUCH GEGENSEITIG RESPEKTIEREN.
Ein gesunder Selbstwert ist die beste und effektivste Gewaltprävention!
Michaela Harrer, Dipl. Ehe- & Familienberaterin in der St. Elisabeth-Stiftung